Welche Ursachen hat eine Lese- Rechtschreibstörung (Legasthenie)?

Ist es gesichert, welche Ursachen einer Lese-Rechtschreibstörung zugrunde liegen? Gibt es eine einzige Ursache? Wie ist der aktuelle Forschungsstand in Hinblick auf die Ursachenforschung?

Kombination mehrerer Ursachen

Eine LRS wird vermutlich nicht durch einen einzigen Faktor verursacht, sondern durch eine Kombination verschiedener Bedingungen. Es handelt sich also vermutlich um eine heterogene Störung. Beispielsweise Vererbung (Genetik), Nervensystem (Neurobiologie), psychosoziale Faktoren (Elternhaus, Schule …) und Informationsverarbeitung (Kognition) können eine Rolle spielen. Insgesamt sind die Ursachen jedoch noch nicht abschließend und umfassend wissenschaftlich erschlossen. Weiterer Forschungsbedarf ist vorhanden, um bestimmte Hypothesen zu klären und Erkenntnisse zu sichern.

Genetik

Ist ein Geschwisterteil von Legasthenie betroffen, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind selbst eine Lese- und/oder Rechtschreibstörung entwickelt, deutlich erhöht. Der genetische Faktor verursacht jedoch nicht zwangsläufig eine Legasthenie, das Wiederholungsrisiko liegt zwischen 43% und 60% (Schulte-Körne und Galuschka, S. 11). Es kann jedoch von einer genetischen Veranlagung ausgegangen werden (siehe Zwillingsstudien, Vergleich von eineiigen und zweieiigen Zwillingen). Dementsprechend ist auch das Risiko, eine Legasthenie zu entwickeln, deutlich erhöht, wenn eines oder sogar beide Elternteile betroffen sind. Schulte-Körne (2002) gibt die Erblichkeit für die Lesefähigkeit mit ungefähr 50% an, die Erblichkeit für die Rechtschreibfähigkeit mit etwa 60%. Welche Gene genau bei der Vererbung eine Rolle spielen ist noch weitgehend ungeklärt. Die genetische Forschung konnte jedoch inzwischen verschiedene Genorte bestimmen, die für die Entstehung einer Lese-Rechtschreibstörung von Bedeutung sein könnten.

Neurobiologie und Kognition

Dass bestimmte Prozesse im Gehirn und des Nervensystems (neuronales System) in spezifischen Hirnarealen ungestört ablaufen, bildet die Voraussetzung für die Wahrnehmung und Verarbeitung von Wörtern und Sprache. Besonders die visuelle und auditive Informationsverarbeitung spielen eine entscheidende Rolle. Werden visuelle und auditive Informationen von Menschen mit einer Lese- Rechtschreibstörung also anders verarbeitet als von einer Vergleichsgruppe und kann dies mit bildgebenden Verfahren nachgewiesen werden? Die Ergebnisse der Hirnforschung tragen zur Klärung dieser und ähnlicher Fragen bei. In verschiedenen Studien konnte nachgewiesen werden, dass bei Menschen mit Legasthenie tatsächlich bestimmte Funktionen in der linken Gehirnhälfte anders ablaufen bzw. Störungen aufweisen im Vergleich zu Menschen ohne eine Lese-Rechtschreibstörung (zum Beispiel Lautunterscheidung und Speicherung von Lauten im Gedächtnis, Laut- Buchstaben-Zuordnung …). Diese Forschungsergebnisse wurden mit Hilfe bildgebender Verfahren erzielt, hirnorganische Entsprechungen für bestimmte Auffälligkeiten konnten also gefunden werden. Ein häufig genutztes bildgebendes Verfahren ist beispielsweise die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT). Mit Hilfe der fMRT können aktuell aktive Regionen (Areale) im Gehirn bestimmt werden. Durch die Positronen- Emissions-Tomographie (PET) können hingegen Schnittbilder erzeugt werden.

Untersucht wurden unter anderem sprachliche Vorläuferfunktionen, die phonologische Informationsverarbeitung, die visuelle Wahrnehmung, die Sprachwahrnehmung und die Aufmerksamkeitsleistung in Bezug auf Lese- und Rechtschreibprobleme.

Carolin Ligges (2007) analysierte beispielsweise in ihrer Arbeit, ob bei Lese-Rechtschreibschwierigkeiten ein phonologisches Verarbeitungsdefizit durch neurobiologische Messverfahren nachweisbar ist. Zu diesem Zweck wurden Ergebnisse von Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren der Hirnaktivität in den Hirnarealen, die am Leseprozess beteiligt sind, genauer betrachtet und ausgewertet. Ist die Fähigkeit mit Sprachlauten umzugehen, die eine wichtige Eigenschaft für einen erfolgreichen Schriftspracherwerb darstellt, bei Kindern mit einer Lese-Rechtschreibstörung nachweislich eingeschränkt? Die herangezogenen Studien zeigten allesamt Aktivierungsunterschiede bestimmter Hirnareale, die an der phonologischen Sprachverarbeitung beteiligt sind, zwischen (hauptsächlich erwachsenen) Personengruppen mit LRS und nicht-betroffenen Kontrollgruppen. Es scheint demzufolge bei Menschen mit einer Lese-Rechtschreibschwäche ein nachweisbares Defizit im Bereich der Sprachwahrnehmung vorzuliegen.

Wimmer und Kronbichler (2002) gingen der Frage nach, ob das niedrige Lesetempo bzw. die verlangsamte Lesegeschwindigkeit bei Menschen mit einer Leseschwäche mit Defiziten bei der visuellen Verarbeitung in Zusammenhang gebracht werden kann. Es konnten hier keine Auffälligkeiten bei den Augenbewegungen während des Lesens nachgewiesen werden. Auch zeigten sich keine Unterschiede in Bezug auf die Verarbeitungsgeschwindigkeit zwischen Schülern mit einer Leseschwäche und einer Gruppe nicht-betroffener Schüler. Allerdings konnte nachgewiesen werden, dass vermutlich bei leseschwachen Schülern ein Defizit im schnellen Benennen visueller Reize vorliegt, dessen entsprechende Hirnareale in der linken Gehirnhälfte vorzufinden sind.

Auch ein Zusammenhang zwischen einer Lese-Rechtschreibstörung und Linkshändigkeit wurde über einen längeren Zeitraum angenommen. Diese Vermutung konnte jedoch in wissenschaftlichen Studien nicht bestätigt werden.

Psychosoziale Faktoren

Welche Rolle spielt das soziale Umfeld des Kindes bei der Entwicklung einer Lese- Rechtschreibstörung? Haben die Lebensumstände wie beispielsweise Bildung, Einkommen und der sozioökonomische Status der Familie einen verursachenden Einfluss auf die Entstehung von LRS?

An dieser Stelle sei zunächst auf die Unterscheidung von dem eher allgemeinen Begriff der „Lese-Rechtschreibschwierigkeiten“ und dem enger gefassten Begriff der „Lese-Rechtschreibstörung“ verwiesen (siehe „Definition: Was bedeutet LRS, Lese-Rechtschreibstörung und Legasthenie?“) Denn selbstverständlich können eine unangemessene Beschulung oder emotionale Störungen zu einem mangelnden Erwerb von Lese-und Rechtschreibfähigkeiten führen.

Legt man zur Bestimmung der LRS jedoch die Kriterien der gebräuchlichen Klassifikationsschemata (ICD-10, DSM-V) zugrunde, so gelten diese Faktoren als Ausschlusskriterien für die Diagnose einer „Lese-Rechtschreibstörung“.

Dementsprechend können psychosoziale Faktoren nicht als Verursacher für eine „Lese-Rechtschreibstörung“ gelten. Nichtsdestotrotz kann das häusliche Umfeld Auswirkungen auf die Lese-Rechtschreibleistung haben, indem zum Beispiel bestimmte Einstellungen zur Schriftsprache vermittelt werden. Durch einen positiven Umgang mit dem „Lesen“ in der Familie kann beispielsweise die Lesefreude und Lesemotivation erhöht werden, eine wichtige Voraussetzung für ein erfolgreiches Lesenlernen. Umgekehrt ist natürlich auch eine negative Einflussnahme möglich. Das gleiche gilt für die Wirkung schulischer Faktoren, die ebenfalls nicht als verursachend für eine Legasthenie angesehen werden können, umgekehrt jedoch positive und motivierende Anreize geben können. Die Lern- und Leistungsbereitschaft des Einzelnen können also durchaus durch das Umfeld mitbestimmt werden. Diese wirkt sich dann wiederum auf den Umgang mit der Lese-Rechtschreibstörung und deren Folgen aus und ist mitentscheidend dafür, ob trotz einer Lese- Rechtschreibschwäche gute Lernfortschritte im Lese-Rechtschreibbereich erzielt werden können oder nicht.

Scheerer-Neumann (2018) stellt in Bezug auf die Auswertung verschiedener Schulleistungstests fest, dass die Lese-Rechtschreibleistung mit soziokulturellen Faktoren in Verbindung gebracht werden kann. Grundlegend wird die Kommunikation zwischen Eltern und Kind sein, die bereits ab dem Vorschulalter in Bezug auf sprachliche und schriftliche Gegebenheiten stattfindet. Der motivierende oder demotivierende Umgang mit Schriftsprache im Elternhaus ist also durchaus ein Einflussfaktor für die Lese- und Rechtschreibentwicklung des Kindes. Zudem spielt das Geschlecht (Jungen sind häufiger betroffen als Mädchen) und erwartungsgemäß auch ein Migrationshintergrund eine Rolle. Kinder mit einer anderen Muttersprache schneiden bei Lesetests in deutscher Sprache verständlicherweise im Durchschnitt schlechter ab als Kinder mit deutscher Muttersprache. Es gibt jedoch durchaus auch Fälle, bei denen dies nicht zutreffend ist. Dies hängt dann oft mit dem Bildungsstand innerhalb der Familien zusammen.

Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass psychosoziale Faktoren zwar nicht verursachend sind, die bestehende Lese-Rechtschreibproblematik jedoch verstärken oder abschwächen können und somit einen Einfluss auf den Verlauf haben.

Fazit

Die Ursachen, die zur Ausbildung einer Lese-Rechtschreibstörung führen, sind noch nicht umfassend geklärt. Es wird davon ausgegangen, dass genetische, neurobiologische und kognitive Faktoren eine verursachende Rolle und psychosoziale Faktoren eine verstärkende oder abschwächende Rolle für den Verlauf spielen.

Quellen

Ligges, Carolin (2007): Die Bedeutung der Phonologie für die Lese- Rechtschreibstörung in:

Schulte-Körne, Gerd (Hrsg.) (2007): Legasthenie und Dyskalkulie: Aktuelle Entwicklungen in Wissenschaft, Schule und Gesellschaft, Bochum, Deutschland: Verlag Dr. Dieter Winkler, S. 237-245

Scheerer-Neumann, Gerheid (2018): Lese-Rechtschreib-Schwäche und Legasthenie, 2. Aufl., Stuttgart, Deutschland: W. Kohlhammer GmbH.

Schulte-Körne, Gerd (2002): Neurobiologie und Genetik der Lese-Rechtschreibstörung (Legasthenie) in: Schulte-Körne, Gerd (Hrsg.) (2002): Legasthenie: Zum aktuellen Stand der Ursachenforschung, der diagnostischen Methoden und der Förderkonzepte, Bochum, Deutschland: Verlag Dr. Dieter Winkler, S. 13-41

Schulte-Körne, Gerd (Hrsg.) (2002): Legasthenie: Zum aktuellen Stand der Ursachenforschung, der diagnostischen Methoden und der Förderkonzepte, Bochum, Deutschland: Verlag Dr. Dieter Winkler.

Schulte-Körne, Gerd (Hrsg.) (2007): Legasthenie und Dyskalkulie: Aktuelle Entwicklungen in Wissenschaft, Schule und Gesellschaft, Bochum, Deutschland: Verlag Dr. Dieter Winkler.

Schulte-Körne, Gerd / Katharina Galuschka (2019): Lese- / Rechtschreibstörung (LRS) (Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie), Göttingen, Deutschland: Hogrefe Verlag.

Wimmer, Heinz und Martin Kronbichler (2002): Legasthenie: Neurokognitive Erklärungen auf dem Prüfstand in: Schulte-Körne, Gerd (Hrsg.) (2002): Legasthenie: Zum aktuellen Stand der Ursachenforschung, der diagnostischen Methoden und der Förderkonzepte, Bochum, Deutschland: Verlag Dr. Dieter Winkler, S. 89-99