Was ist eine Lese-Rechtschreibstörung (Legasthenie)?

Was unterscheidet die Begriffe Lese-Rechtschreibstörung und Legasthenie von anderen Begriffen zur Beschreibung von erheblichen Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben? Wie sind diese Begriffe definiert und welche Kriterien müssen zur Diagnose einer Lese-Rechtschreibstörung (Legasthenie) erfüllt sein?

Begriffsdefinition

Probleme beim Erwerb des Lesens und Schreibens werden auf ganz unterschiedliche Art und Weise benannt. Häufig zu finden sind die Begriffe Lese-Rechtschreibstörung, Legasthenie, LRS, Lese-Rechtschreib-Schwäche, Lese-Rechtschreibschwierigkeiten und noch viele mehr. An dieser Stelle sollen die Begriffe Lese-Rechtschreibstörung und Legasthenie genauer bestimmt werden.

Definitionsmerkmale für eine Lese-Rechtschreibstörung (Legasthenie)

Kennzeichnend für eine Lese-Rechtschreibstörung (Legasthenie) sind ausgeprägte Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und/oder des Schreibens trotz

  • ausreichender Lerngelegenheiten
  • mindestens durchschnittlicher Intelligenz (kognitiver Leistungsfähigkeit)

Die ausgeprägten Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und/oder Schreibens dürfen zur Diagnose – also zur Bestimmung – einer Lese-Rechtschreibstörung nicht zurückzuführen sein auf

  • mangelnde Lerngelegenheiten
  • mangelnde kognitive Fähigkeiten
  • Beeinträchtigungen des Seh- oder Hörvermögens
  • mangelnde Kenntnisse der entsprechenden Sprache (mündlich)
  • Hirnverletzungen
  • psychische (emotionale, seelische) Erkrankungen

„Ausgeprägte Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und Schreibens“ bedeutet, dass trotz entsprechender kognitiver Fähigkeiten (Intelligenz) und ausreichender Beschulung beim Lesen erwartungswidrig sehr viele Lesefehler gemacht werden und die Lesegeschwindigkeit deutlich gemindert ist, was die Sinnentnahme (Verständnis) beim Lesen drastisch beeinträchtigt. Beim Schreiben zeigt sich eine ebenfalls erwartungswidrig hohe Anzahl von Rechtschreibfehlern, wobei keine spezielle Art von Fehlern auf eine Lese- Rechtschreibstörung (Legasthenie) hinweist. Die Speicherfähigkeit für Wortbilder scheint beeinträchtigt zu sein, was sich beim Lesen bereits anfänglich durch eine mangelnde Verinnerlichung von Laut- Buchstaben- Zuordnungen (Phonem-Graphem-Korrespondenz) äußern kann und später oft dazu führt, dass auch sich häufig wiederholende Wortbilder nicht aus dem Gedächtnis abgerufen werden können und dadurch Buchstabe für Buchstabe bzw. Laut für Laut erschlossen werden müssen. Diese Lesestrategie führt folgerichtig zu einem stockenden Lesefluss und einem herabgesetzten Lesetempo. Die gleiche Schwierigkeit zeigt sich beim Schreiben häufig dadurch, dass auch gelernte Wörter oft auf mannigfaltige Art und Weise falsch geschrieben werden. Die Schwierigkeiten bestehen seit Beginn des Schriftspracherwerbs, also des Lesen- und Schreibenlernens, und sind für eine längere Dauer, oft sogar bis ins Erwachsenenalter, nachweisbar. Sie beeinträchtigen deutlich die schulischen oder auch beruflichen Leistungen. Laut Waldemar von Suchodoletz treten bei etwa 7% aller Schüler derartige Lese- Rechtschreibstörungen auf, die nicht schlüssig erklärt werden können.

Legasthenie

Der Begriff Legasthenie (lateinisch „legere“ = lesen, griechisch „astheneia“ = Schwäche) wurde bereits Anfang des 20. Jahrhunderts von Paul Ranschburg, einem ungarischen Psychologen und Psychiater, geprägt. Er ging davon aus, dass eine Störung von Hirnfunktionen ursächlich für dieses Phänomen sei. Im Englischen wird der Begriff „dyslexia“ gebraucht. Dyslexie bezeichnet die eingeschränkte Fähigkeit, Wörter, Sätze oder Texte zu lesen und zu verstehen. Die Begriffe Legasthenie und Lese-Rechtschreibstörung werden heutzutage meist austauschbar für das gleiche Störungsbild verwendet, wobei der Begriff Lese-Rechtschreibstörung inzwischen häufiger ist. Legasthenie wird oft als genetisch verursacht gedacht, da festgestellt wurde, dass eine Legasthenie in einigen Familien gehäuft in Erscheinung tritt. Jedoch bedeutet dies im Umkehrschluss nicht, dass jedes Kind mit einem Elternteil, das von einer Lese- Rechtschreibstörung betroffen ist, selbst eine Legasthenie entwickelt.

Definition laut ICD-10

Die „ICD“ ist ein Klassifikationsschema für Krankheiten und Diagnosen und wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben. Die ICD-10 ist die aktuelle Ausgabe dieses Diagnosehandbuchs von 2019. Sie wird für die Klassifikation (also das Einordnen oder das Einteilen von Krankheiten und psychischen Störungen) in Deutschland verwendet, bzw. die in Deutschland verwendete Klassifikation beruht zur Zeit auf der ICD-10. Die Lese- und/oder Rechtschreibstörung fällt in dieser Einteilung psychischer Störungen unter die Oberkategorie der „umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten“. „Umschrieben“ bedeutet, dass die Störungen deutlich abgegrenzt beziehungsweise genau bestimmt sind. In der deutschsprachigen Ausgabe der ICD-10 findet der Begriff „Legasthenie“ keine Verwendung.

In diesem Klassifikationsschema wird stattdessen zwischen einer Lese-und Rechtschreibstörung und einer isolierten Rechtschreibstörung unterschieden (in der ICD-11 wird voraussichtlich auch eine isolierte Lesestörung aufgenommen werden). Allen gemein ist laut dieses Klassifikationsschemas, dass die Störungen in der Kindheit beginnen und nicht eine Folge von fehlenden Lerngelegenheiten, einer mangelnden Intelligenz oder eine Folge von erworbenen Hirnschädigungen sind.

Bei der Lese- Rechtschreibstörung wird laut ICD-10 das Hauptaugenmerk auf die Lesefertigkeiten gelegt. Ergänzt wird jedoch, dass häufig gleichzeitig Rechtschreibdefizite zu erkennen sind. Es wird zudem darauf hingewiesen, dass die Lese-Rechtschreibstörung oft in Komorbidität (= begleitet von anderen Störungen oder Krankheiten) mit Störungen des Verhaltens oder Störungen im emotionalen Bereich auftritt. Beispiele für Komorbiditäten sind Angststörungen, Depressionen (Erkrankung, die das Denken, Fühlen und Handeln beeinflusst) oder die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS).

Häufig geht eine Lese- Rechtschreibstörung auch mit einer Störung der Sprachentwicklung einher. Oft geht diese Sprachentwicklungsstörung oder -verzögerung auch einer Störung des Schriftspracherwerbs voraus. Zudem kommt es vor, dass andere Schulleistungen gleichzeitig beeinträchtigt sind. Es kann zum Beispiel gleichzeitig eine Rechenstörung (Dyskalkulie) vorliegen, bei der die Rechenfähigkeiten beeinträchtigt sind.

Eine isolierte Rechtschreibstörung wird diagnostiziert, wenn lediglich Beschränkungen im Bereich der Rechtschreibleistung festgestellt werden können, die Leseleistung sich jedoch mindestens auf einem altersgemäßen Stand befindet.

Lese- und/oder Rechtschreibstörung

Entgegen der Definition in der ICD-10 wird die Diagnose Lese-Rechtschreibstörung in Deutschland häufig mit dem Hauptaugenmerk auf die Rechtschreibleistung gestellt. Oft sind die Bereiche Lesen und Rechtschreibung gleichzeitig betroffen, gehäuft ist jedoch auch nur das Lesen oder nur die Rechtschreibung beeinträchtigt. Landerl und Moll (S. 49) zufolge treten laut aktueller Studien isolierte Lesestörungen oder isolierte Rechtschreibstörungen in etwa ebenso häufig auf wie kombinierte Lese – und Rechtschreibstörungen. Schwierigkeiten beim Lesen und Probleme bei der Rechtschreibung müssen also nicht zwingend gemeinsam auftreten.

Definition laut DSM-5 (und Unterschiede zu ICD-10)

Das DSM-5 ist der „diagnostische und statistische Leitfaden psychischer Störungen“ und seit 2013 gültig. Es wird schwerpunktmäßig in den USA, aber auch international, zur Klassifikation psychischer Störungen verwendet. Im DSM-5 wird in Bezug auf das Lesen und Rechtschreiben unterschieden zwischen einer spezifischen Lernstörung mit Beeinträchtigung beim Lesen (Wortlesegenauigkeit, Lesegeschwindigkeit oder Leseflüssigkeit, Leseverständnis) und einer spezifischen Lernstörung mit Beeinträchtigung beim schriftlichen Ausdruck (Rechtschreibung, Grammatik, Zeichensetzung, Textproduktion und Textstrukturierung). Lernstörungen allgemein sind anhaltend, das heißt sie bestehen über einen längeren Zeitraum hinweg. Der Zeitabschnitt muss laut DSM-5 – auch wenn gezielte Förderung stattfindet – bei mindestens 6 Monaten liegen. Als Ausschlusskriterien zur Diagnose einer Lernstörung werden ähnliche Faktoren (Aspekte) wie in der ICD-10 beschrieben. Allerdings wird statt des IQ-Diskrepanz-Kriteriums wie in der ICD-10 lediglich ein Alters- bzw.- Klassen-Diskrepanz-Kriterium aufgeführt. Diskrepanz meint eine Abweichung beziehungsweise ein Missverhältnis. Bei den in Deutschland gängigen Testverfahren ist oft nur ein Vergleich mit der Klassennorm möglich. Zur Diagnose soll zudem die individuelle Entwicklungsgeschichte Berücksichtigung finden. Anders als in der ICD-10 ist nach DSM-5 auch zusätzlich eine Einteilung der Störungen in unterschiedliche Schweregrade (leicht, mittel, schwer) möglich. Als komorbide Störungen werden psychische Erkrankungen und andere Lernstörungen genannt.

Das Diskrepanzkriterium

Im Gegensatz zu anderen Begriffen zur Bezeichnung von erheblichen Problemen beim Lesen und/oder Rechtschreiben, bei denen schwerpunktmäßig das Leistungsdefizit in eben diesen Bereichen genauer definiert wird, setzen die Begriffe Legasthenie oder Lese-Rechtschreibstörung zusätzlich zu diesem Leistungsaspekt zur Diagnose eine Diskrepanz (Abweichung) der Lese-Rechtschreibleistung zu anderen Schulleistungen und/oder zur Intelligenz (siehe ICD-10) voraus.

Sollte eine Lese-Rechtschreibstörung also nur diagnostiziert werden, wenn eine deutliche Diskrepanz (Missverhältnis) zwischen dem Stand der Lese-Rechtschreibleistung und der Intelligenz besteht, also eine entsprechende Differenz zwischen den Ergebnissen in einem Lese- oder Rechtschreibtest und einem Intelligenztest vorliegen? Über diesen Aspekt wird unter Wissenschaftlern kontrovers diskutiert, es handelt sich also bisher um ein strittiges Thema, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern auch international. Die ICD-10 hat dieses Diskrepanzkriterium zur Diagnostik aufgenommen, der DSM-5 hat darauf verzichtet.

Durch die Diskrepanzdefinition zwischen der Lese-Rechtschreibleistung und der Intelligenz (zur Diagnose Legasthenie bzw. Lese- Rechtschreibstörung gilt laut ICD-10 das Kriterium von mindestens zwei Standardabweichungen, in anderen Veröffentlichungen finden sich Angaben zwischen ein und zwei Standardabweichungen) wird verdeutlicht, dass es sich bei dieser Störung um separate Schwierigkeiten handelt und andere (Lern-)bereiche zunächst nicht davon betroffen sind.

Allerdings wird argumentiert, dass die Ergebnisse von Intelligenztests und standardisierten Rechtschreibtests nicht hoch miteinander korrelieren. Das heißt, dass sie nicht stark in Wechselbeziehung miteinander stehen.

In Studien konnten darüber hinaus keine eindeutigen Unterschiede zwischen Vergleichsgruppen, bei denen das Diskrepanzkriterium bei der Diagnose zur Geltung kam, und solchen, bei denen dies nicht der Fall war, belegt werden. Die Probleme beim Lesen- und Schreibenlernen, die Wirksamkeit unterschiedlicher Fördermöglichkeiten und die psychischen und emotionalen Folgen der Lese- und/oder Rechtschreibschwierigkeiten unterschieden sich in beiden Gruppen kaum (nach Scheerer- Neumann, Gerheid (2018): S. 26-27).

Die Anwendung des Diskrepanzkriteriums kann zudem dazu führen, dass bestimmte Personengruppen von hilfreichen Fördermöglichkeiten und Finanzierungshilfen ausgeschlossen werden, obwohl sie der Unterstützung bei ihren Problemen bedürften, um angemessen am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können (nach Scheerer- Neumann, Gerheid (2018): S. 27). Denn in Bezug auf die Effektivität von Förderprogrammen konnten zwischen den beiden Gruppen keine bedeutenden Unterschiede festgestellt werden.

Fazit

Die unterschiedlichen Klassifikationsschemata stimmen bei der Beschreibung einer Lese-Rechtschreibstörung (Legasthenie) weitestgehend überein. Diskutiert wird vor allem die Frage, ob die Diskrepanz zwischen Intelligenz und Lese- Rechtschreibleistung als Diagnosekriterium herangezogen werden soll, oder nicht.

Quellen:

Landerl, Karin / Kristina Moll (2014): Dissoziationen zwischen Störungen des Lesens und Störungen des Rechtschreibens, in: Schulte-Körne, Gerd / Günther Thomé (Hrsg.) (2014): LRS- Legasthenie: interdisziplinär, Oldenburg, Deutschland: isb- Verlag S. 47-60

Scheerer-Neumann, Gerheid (2018): Lese-Rechtschreib-Schwäche und Legasthenie, 2. Aufl., Stuttgart, Deutschland: W. Kohlhammer GmbH.

Schulte-Körne, Gerd (2004): Elternratgeber Legasthenie, München, Deutschland: Knaur Ratgeber Verlage.

Schulte-Körne, Gerd / Günther Thomé (Hrsg.) (2014): LRS- Legasthenie: interdisziplinär, Oldenburg, Deutschland: isb- Verlag.

Schulte- Körne, Gerd (2014): Aktuelle Entwicklungen zur Klassifikation und Definition der Lese-, der Rechtschreib- und der Lese-Rechtschreibstörung in: Schulte-Körne, Gerd / Günther Thomé (Hrsg.) (2014): LRS- Legasthenie: interdisziplinär, Oldenburg, Deutschland: isb- Verlag, S. 137-147

Schulte-Körne, Gerd / Katharina Galuschka (2019): Lese- / Rechtschreibstörung (LRS) (Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie), Göttingen, Deutschland: Hogrefe Verlag.

Suchodoletz, Waldemar von (Hrsg.) (2003): Therapie der Lese- Rechtschreib-Störung (LRS),

Stuttgart, Deutschland: Verlag W. Kohlhammer.