Für erhebliche Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und Schreibens sind zahlreiche unterschiedliche Begriffe gebräuchlich. Bezeichnen sie alle das Gleiche? Wo liegen die Unterschiede? Ist die Verschiedenheit in der Definition von Bedeutung?
Terminologie
Viele Kinder haben Probleme beim Erlernen des Lesens und Schreibens. Fallen diese Schwierigkeiten bereits zu Beginn des Schriftspracherwerbs bzw. des Erstleseunterrichts auf und setzen sich diese Problematiken über einen längeren Zeitraum fort, sind sie also anhaltend und führen zu gravierenden Beeinträchtigungen in der Schulzeit und gegebenenfalls auch zu einer Erschwernis später im Berufsleben bzw. generell im Erwachsenenleben, so spricht man beispielsweise von einer Lese-Rechtschreibstörung. Für das gleiche Phänomen findet man jedoch auch zahlreiche andere Begriffe, wie beispielsweise LRS, Lese-Rechtschreibschwäche, Legasthenie, Lese-Rechtschreibschwierigkeiten, Lesestörung, Leseschwäche, Rechtschreibstörung, Rechtschreibschwäche, Dyslexie und Wortblindheit. Wo liegen die Unterschiede oder bedeutet dies alles das Gleiche? Können die Schwierigkeiten beim Lesen- und Schreibenlernen überhaupt eindeutig definiert werden oder erfolgt die Definition mehr oder weniger willkürlich?
Klassifikationsschemata – Lese-Rechtschreibstörung, isolierte Rechtschreibstörung und spezifische Lernstörung
Die meisten der unter „Terminologie“ genannten Begriffe sind nicht klar definiert. Dies gilt nicht für den Begriff der „Lese-Rechtschreibstörung“ oder der „isolierten Rechtschreibstörung“. Im Klassifikationsschema ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind klare Definitionsmerkmale vorgegeben, nach denen eine Lese-Rechtschreibstörung oder auch eine isolierte Rechtschreibstörung diagnostiziert werden können. Diese Störungen gehören neben der Rechenstörung, den kombinierten Störungen schulischer Fertigkeiten und den sonstigen Störungen schulischer Fertigkeiten zu den „umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten.“
Ein anderes international angewandtes Klassifikationsschema ist das DSM-5. Hier werden klare Kriterien festgelegt für eine „spezifische Lernstörung mit Beeinträchtigung beim Lesen“ und eine „spezifische Lernstörung mit Beeinträchtigung beim schriftlichen Ausdruck“. Die individuelle Entwicklung der Lernstörungen findet in dieser Klassifikation mehr Berücksichtigung als in der ICD-10. Auf das Intelligens-Diskrepanzkriterium der ICD-10 wird im DSM-5 verzichtet. Detaillierte Hintergrundinformationen dazu finden Sie in dem Artikel „Was ist eine Lese-Rechtschreibstörung (Legasthenie)?“.
Durch die Klassifikationsschemata soll erreicht werden, auch international zu einer eindeutigen Beschreibung der aufgeführten Erkrankungen oder Störungen zu gelangen. Eine eindeutige Charakterisierung kann zum Beispiel dazu beitragen, die Häufigkeit der Fälle (Prävalenz) genau zu erfassen, die aktuell noch sehr uneinheitlich angegeben wird. Eine umfangreiche Diagnostik ist zur Feststellung der spezifischen Lernstörungen bzw. (Lese-)Rechtschreibstörung vorausgesetzt. Symptomatik und Diagnosekriterien werden in den Klassifikationsschemata beschrieben. Aber bereits die Aufgabe einen Grenzwert, der die Minderleistung beschreibt, festzulegen, ist sehr komplex, im Prinzip willkürlich und damit problematisch. Ausschlusskriterien sollen unter anderem sicherstellen, dass eine angemessene Förderung erfolgen kann. Ausführliche Informationen zur Einteilung und Strukturierung in den offiziellen Klassifikationsschemata finden Sie ebenfalls in diesem Artikel.
Die Vielfalt der Begriffe
Scheerer-Neumann (2018) schreibt, dass die Begriffe „Legasthenie“ oder „Lese-Rechtschreib-Störung“ meist von dem Personenkreis gebraucht wird, der Befürworter des Diskrepanzkriteriums (siehe hier) bei der Diagnostik ist.
„Lese-Rechtschreib-Schwäche“ (Eigenschaft des Kindes) und „Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten“ (Lernprozess steht im Fokus) würden hingegen von denjenigen genutzt, die das Diskrepanzkriterium nicht anwenden und ausschließlich die nicht ausreichende Lese- und/oder Rechtschreibleistung im Vergleich zur Bezugsgruppe zur Definition heranziehen.
Inzwischen häufen sich Hinweise darauf, dass sich diese beiden Gruppen hinsichtlich ihrer Probleme beim Schriftspracherwerb, ihrer spezifischen Fehler, des Erfolges von Förderkonzepten und der weiterreichenden Folgen der Lese-Rechtschreibschwierigkeiten nicht unterscheiden.
Kultusministerkonferenz
Die Kultusministerkonferenz (KMK) ist ein Bündnis der zuständigen Minister aus den einzelnen Bundesländern. 2003 bzw. 2007 wurden, als freiwillige Vorgaben für die Beschlüsse in den einzelnen Bundesländern, „Grundsätze zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben …“ erstellt. Die Begrifflichkeit für die betroffene Personengruppe – „Schülerinnen und Schüler mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben“ – wurde also sehr allgemein gehalten und auch nicht näher definiert. Es heißt an dieser Stelle lediglich: „Es gibt Schülerinnen und Schüler mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben. Zustandekommen, Erscheinungsbild, Ausmaß und Folgen solcher Schwierigkeiten wurden ausführlich untersucht und diskutiert. Die pädagogische, psychologische und medizinische Forschung auf diesem Gebiet ist kontrovers und hat viele Fragen nicht abschließend geklärt.“
Beispiel: LRS- Erlass (NRW)
Da Bildungspolitik in Deutschland Ländersache ist, existieren je nach Bundesland unterschiedliche schulrechtliche Bestimmungen, die sich mit den Schülerinnen und Schülern, die von LRS betroffen sind, befassen. Entsprechend fallen auch die konkreten Regelungen für den Umgang mit dieser Schülergruppe unterschiedlich aus. Beispielhaft wird an dieser Stelle der Erlass von Nordrhein-Westfalen (NRW) näher betrachtet. In diesem LRS-Erlass von 1991 ist entsprechend von „LRS“ die Rede. Näher bestimmt wird dieser Begriff im Erlass nicht. Die Abkürzung „LRS“ kann für Lese-Rechtschreib-Schwäche, Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten oder Lese-Rechtschreib-Störung stehen. Nur der Begriff Lese- Rechtschreib- Störung ist, wie oben bereits erklärt, durch die Kriterien der ICD-10 genau definiert. Im Erlass von NRW wird ganz allgemein beschrieben, dass es Schülerinnen und Schüler gibt, die besondere Schwierigkeiten mit dem Lesen und der Rechtschreibung haben und dass diese besonderer schulischer Maßnahmen bedürfen. In der Informationsschrift zum LRS-Erlass NRW wird der Versuch unternommen, „LRS“ näher zu definieren. Nach einem kurzen Abriss, welche der existierenden Begriffe im medizinischen bzw. psychologischen Bereich Verwendung finden, wird auf das Thema „Schule“ näher eingegangen. Es wird ausgeführt, dass seit den 1970er Jahren im schulischen Bereich meist der Begriff „Lese-Rechtschreib-Schwäche“ gebraucht wurde, um eine Schülergruppe zu beschreiben, zwischen deren Lese-Rechtschreibfähigkeiten und der sonstigen Leistungsfähigkeit in anderen Bereichen eine große Diskrepanz bestand (Diskrepanzdefinition, siehe Artikel „Was ist eine Lese-Rechtschreibstörung (Legasthenie)?“).
Im Laufe der Jahre erkannte man jedoch, dass eine größere Anzahl von Schülern, die nicht genau den vorgegebenen Definitionskriterien entsprachen, ebenfalls besonderer Unterstützung beim Schriftspracherwerb bedurften. Der aktuelle Titel des LRS-Erlasses wurde also bewusst so gewählt, dass er die Grundlage dafür bildet, dass alle Schüler und Schülerinnen mit Problemen des Lesen- und Schreibenlernens, also alle mit unterdurchschnittlichen Leistungen in diesen Bereichen, unabhängig von den Ursachen für diese Schwierigkeiten, in den Schulen gezielt unterstützt und gefördert werden können und sollen.
Beispielsweise in den Richtlinien von Bayern wird hingegen auf die Diskrepanzdefinition verwiesen.
Fazit
Bis auf die „Lese-Rechtschreibstörung“ bzw. „isolierte Rechtschreibstörung“ sind die meisten Begriffe für besondere Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb nicht klar definiert. In der Schulpolitik finden die Fachausdrücke je nach Bundesland unterschiedliche Verwendung.
Quellen:
Bezirksregierung Düsseldorf: Förderung von Schülerinnen und Schülern bei besonderen Schwierigkeiten im Erlernen des Lesens und Rechtschreibens (LRS). Informationsschrift zum LRS-Erlass NRW: (BASS 14-01 Nr. 1, Stand: 01.04.2015). Abgerufen am 7.2.2020 von https://www.brd.nrw.de/Schule_Lehrkraefteausfortbildung/Lehrkraeftefortbildung/Downloads-Fortbildung/Bezirksregierung-Duesseldorf—Info-Schrift-LRS-Erlass-2017.pdf
Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen: Förderung von Schülerinnen und Schülern bei besonderen Schwierigkeiten im Erlernen des Lesens und Rechtschreibens (LRS), RdErl. d. Kultusministeriums v. 19.07.1991. Abgerufen am 3.2.2020 von https://bass.schul-welt.de/280.htm
Scheerer-Neumann, Gerheid (2018): Lese-Rechtschreib-Schwäche und Legasthenie, 2. Aufl., Stuttgart, Deutschland: W. Kohlhammer GmbH.
Schulte-Körne, Gerd / Günther Thomé (Hrsg.) (2014): LRS- Legasthenie: interdisziplinär, Oldenburg, Deutschland: isb- Verlag.
Schulte- Körne, Gerd (2014): Aktuelle Entwicklungen zur Klassifikation und Definition der Lese-, der Rechtschreib- und der Lese-Rechtschreibstörung in: Schulte-Körne, Gerd / Günther Thomé (Hrsg.) (2014): LRS- Legasthenie: interdisziplinär, Oldenburg, Deutschland: isb- Verlag, S. 137-147
Schulte-Körne, Gerd / Katharina Galuschka (2019): Lese- / Rechtschreibstörung (LRS) (Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie), Göttingen, Deutschland: Hogrefe Verlag.
Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland: Grundsätze zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben oder im Rechnen, Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 04.12.2003 i.d.F. vom 15.11.2007. Abgerufen am 3.2.2020 von https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2003/2003_12_04-Lese-Rechtschreibschwaeche.pdf