LRS-Diagnostik: Wie erkennt man eine Lese-Rechtschreibstörung

LRS-Diagnostik: Wie erkennt man eine Lese-Rechtschreibstörung (Legasthenie)?

Warum kann es wichtig sein, eine Lese- und/oder Rechtschreibdiagnostik durchführen zu lassen? Was bedeutet „LRS-Diagnostik“? Was gehört dazu? Wer ist berechtigt diese durchzuführen? Diese und andere Fragen werden im folgenden Artikel beantwortet.

Warum?

Durch die Diagnostik soll (möglichst zweifelsfrei) festgestellt werden, ob bei einem Kind, einem Jugendlichen oder einem Erwachsenen eine Lese- und/oder Rechtschreibstörung vorliegen könnte. Dabei müssen die verschiedenen Definitionen von LRS berücksichtig werden. Im Laufe der Zeit finden wir eine zunehmende Abkehr von einem rein defizitorientierten Verständnis hin zu einer mehr prozessorientierten Diagnostik. Dies spiegelt auch das relativ neue Konzept der Neurodivergenz/Neurodiversität, dem sich in Kürze ein eigener Artikel an dieser Stelle widmen wird.

Aber warum ist Diagnostik überhaupt wichtig?

Gründe für die Überprüfung der Diagnose „Lese – und/oder Rechtschreibstörung“ können vielfältig sein. An dieser Stelle sollen einige aufgelistet werden:

• Betroffene Kinder haben oft psychosomatische Beschwerden wie beispielsweise unspezifische Bauchschmerzen oder Kopfschmerzen, die zu einer Vorstellung bei Kinderärztin/Kinderarzt führen können. Durch die Diagnose können Kinder und ihre Eltern dann besser verstehen, welche Probleme möglicherweise hinter den beobachteten Symptomen stehen.
• Manchmal werden Eltern für die bestehenden Lese- und Rechtschreibprobleme verantwortlich gemacht. Ihnen wird zum Beispiel vorgeworfen, dass sie ihr Kind zuhause nicht ausreichend gefördert haben. Oder es wird gesagt, die Kinder seien zu „faul“ und würden nicht genug lernen. In diesem Fall kann die Diagnose die vermeintliche „Schuld“ von Eltern oder Kindern nehmen und so zu einer Entlastung beitragen.
• In der Schule kann für betroffene Schüler meist ein Nachteilsausgleich beantragt werden. Voraussetzung ist oft eine gesicherte Diagnose. Konkret wird dies in den verschiedenen Bundesländern jedoch sehr unterschiedlich gehandhabt.
• Durch die Diagnose können Ansprüche gegenüber der Jugendhilfe bestehen. Es besteht unter Umständen ein Eingliederungsbedarf nach Paragraph 35 a (siehe „Quellen“).
• Eine qualitative Diagnostik (individuelle Fehleranalyse) ist als Grundlage einer symptomorientierten, spezifischen Förderung unerlässlich. Parallel zur Therapie sollte zudem eine kontinuierliche Förderdiagnostik gewährleistet sein, um die Effektivität der Fördermaßnahmen durchgehend zu überprüfen. Zudem können auf diese Weise Entwicklungsverläufe – also Fortschritte – dokumentiert werden.
• Die Lösung für Probleme ist in der Regel einfacher, wenn man deren Ursache kennt. Für Lese- und/oder Rechtschreibschwierigkeiten existieren effektive Fördermöglichkeiten. Um einen individuell geeigneten Ansatz zu finden und damit neue Perspektiven für die Betroffenen zu eröffnen ist eine Diagnostik unverzichtbare Voraussetzung.

Was?

Bei der Frage, was genau und in welchem Umfang getestet wird, müssen sowohl die verschiedenen Definitionen von LRS Berücksichtigung finden als auch der Anlass für die Diagnostik. Beispielsweise ist für die pädagogisch orientierte Unterstützung für Schüler in der Schule meist keine Diagnosestellung nach ICD-10 erforderlich. Oft ist in diesen Fällen die Einschätzung der Lehrkraft ausreichend, die für ihre Bewertung neben individuellen Beobachtungen manchmal unterstützend noch zusätzlich auf einen in der Klasse durchgeführten standardisierten Rechtschreibtest zurückgreifen wird. Dies ist jedoch von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich geregelt.

Anders erfolgt die medizinisch orientierte Diagnosestellung einer Lese- und/oder Rechtschreibstörung nach ICD-10. Die ICD-10 wurde inzwischen zwar durch die ICD-11 ersetzt, was jedoch im klinischen Alltag bisher noch keine Bewandtnis hat. Das umstrittene IQ-Diskrepanzkriterium wurde auch hier beibehalten.

Empfehlungen zur Diagnostik auf der Grundlage der ICD-10 enthält die S3-Leitlinie „Diagnostik und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Lese- und / oder Rechtschreibstörung“, die derzeit überarbeitet wird. Diese sieht neben dem bereits oben erwähnten IQ- oder Klassen- bzw. Altersdiskrepanzkriterium unter anderem die Durchführung von Testverfahren zur Erfassung von Lese- und/oder Rechtschreibleistungen vor. Anerkannte Testverfahren werden sowohl in der Leitlinie als auch beispielsweise von Schulte-Körne/Galuschka (2019) aufgelistet. Diese überprüfen im Hinblick auf das potentielle Vorliegen einer Lesestörung, einer Rechtschreibstörung oder einer kombinierten Lese- und Rechtschreibstörung beispielsweise Lesegenauigkeit, Lesefehler und das Leseverständnis und die Rechtschreibleistung. Entsprechend des ausgewählten Diskrepanzkriteriums
muss für die Diagnosestellung die Leseleistung und/oder die Rechtschreibleistung deutlich unter dem Stand liegen, der für das Alter, die Klassenstufe oder die Intelligenz zu erwarten wäre.

Neben den psychometrischen Leistungstests sollte eine gründliche Diagnostik zusätzlich auch eine ausführliche Anamnese beinhalten, die beispielsweise die schulische und familiäre Situation genauer beleuchtet. Gegebenenfalls können weitere Untersuchungen Entwicklungsverzögerungen erfassen. Seh- oder Hörstörungen sollen als Ursache der beobachteten Symptome im Lese- und/oder Rechtschreibbereich ausgeschlossen werden. Auch andere Ausschlusskriterien sollten diagnostisch erfasst werden. Zudem sollten mögliche Komorbiditäten bei der Diagnostik berücksichtigt werden.

Wann?

Eine Lese- und/oder Rechtschreibstörung kann bei anhaltenden Problemen frühestens während des Schulalters sicher festgestellt werden. Günstig ist, wenn die Diagnose bei Verdacht so früh wie möglich erfolgt, da nur so gegebenenfalls rechtzeitig spezielle Fördermöglichkeiten angeboten werden können, die größeren Lerndefiziten oder mit der LRS einhergehenden Schwierigkeiten bestmöglich vorbeugen sollen. Eine Diagnosestellung ist dennoch auch im Erwachsenenalter noch möglich.

Wer?

Auch bei der Frage, wer die Diagnostik durchführt, muss wieder zwischen der Fragestellung (pädagogisch oder medizinisch orientiert) und den möglichen Anlässen für die Diagnostik.

In schulischen Belangen (beispielsweise als Voraussetzung für die Zuteilung zu speziellem Förderunterricht) wird in der Regel die Deutschlehrerin/der Deutschlehrer zuständig sein.

Auch Lerntherapeutinnen oder Lerntherapeuten können geeignete Ansprechpartner sein, die für die Durchführung standardisierter Testverfahren geschult sein sollten, und vor allem qualitative Analysen der Tests oder frei geschriebener Texte sowohl als Grundlage einer Therapie als auch therapiebegleitend vornehmen.

An der Diagnosestellung auf der Grundlage der ICD-10 und gemäß der S3-Leitlinie sind im Allgemeinen beispielsweise Fachleute wie Ärztinnen oder Ärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapeutinnen/Psychotherapeuten, spezialisierte Psychologinnen und Psychologen, Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen und (je nach Fragestellung) weitere Berufsgruppen beteiligt.

Laut Bundesverband Legasthenie e.V. sind „mit dem 18. Lebensjahr und der Volljährigkeit … für eine Diagnose nach ICD-10 Ärzte für Erwachsenenpsychiatrie und Psychotherapie oder approbierte Psychotherapeuten zuständig.“

Fazit:

Bei Verdacht auf Lese- Rechtschreibschwierigkeiten oder eine Lese- Rechtschreibstörung ist es in der Regel sinnvoll, diese Annahme baldmöglichst diagnostisch abklären zu lassen. Je nach Fragestellung sind unterschiedliche Stellen oder Fachleute zuständig und es kommen verschiedene Diagnoseverfahren zum Einsatz.

Quellen:

Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e.V. (2023). Tipps für Erwachsene mit Legasthenie. Abgerufen 5. Juli 2023, von https://www.bvl-legasthenie.de/legasthenie/tipps-fuer-erwachsene.html#content

§ 35a SGB VIII Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit seelischer Behinderung oder drohender seelischer Behinderung
https://www.sozialgesetzbuch-sgb.de/sgbviii/35a.html

S3-Leitlinie:
AVMF (2015). Diagnostik und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Lese- und / oder Rechtschreibstörung – Evidenz- und konsensbasierte Leitlinie (S3), Abgerufen 5. Juli 2023, von https://register.awmf.org/assets/guidelines/028-044l_S3_Lese-Rechtschreibstörungen_Kinder_Jugendliche_2015-06-abgelaufen.pdf
(Wird aktuell überarbeitet.)

Schulte-Körne, Gerd / Katharina Galuschka (2019): Lese- / Rechtschreibstörung (LRS) (Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie), Göttingen, Deutschland: Hogrefe Verlag.

Schulte-Körne, Gerd / Katharina Galuschka (2019): Ratgeber Lese- / Rechtschreibstörung (LRS). Informationen für Betroffene, Eltern, Lehrer und Erzieher. Göttingen, Deutschland: Hogrefe Verlag.